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Demenz ist ein Meer aus Gefühlen und Erinnerungen, Sinnlichkeit und Zärtlichkeit, Poesie und Kunst

Interview mit Demenz-Aktivistin Sophie Rosentreter (Teil 1 von 3)

©Katrin Schöning

In Deutschland leben rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenz. Bis zum Jahr 2050 wird die Zahl der Betroffenen voraussichtlich auf 2,8 Millionen steigen. Dennoch wissen viele von uns sehr wenig über diese Krankheit. Wir haben mit der ehemaligen MTV-Moderatorin und Model Sophie Rosentreter gesprochen, die aufgrund persönlicher Erfahrungen ihre Berufung als Demenz-Aktivistin fand. In einer dreiteiligen Serie für unser Tertianum Journal lesen Sie, wie man Demenz mit
Verständnis und daraus resultierend mehr Leichtigkeit begegnen kann. Denn je mehr Wissen – über die Demenz, über Pflege und Selbstpflege und auch über viele gute Unterstützungsangebote – wir haben, umso leichter wird es.

Frau Rosentreter, wann haben Sie sich zum ersten Mal mit dem Thema Demenz auseinandergesetzt?

Im Jahr 2000 ist meine Großmutter komisch geworden. Ich hatte eine wunderschöne Kindheit und meine Großmutter hat mich mit Liebe überschüttet. Dadurch habe ich gelernt, was Urvertrauen bedeutet. Und, egal wie schlimm es in meinem Leben wird,
ich fühle mich geliebt und habe die Hoffnung, dass es besser wird. Leider wurde im Jahr 2000 diese Welt erschüttert und meine Oma begann plötzlich seltsame Dinge zu machen.

Wie haben Sie gemerkt, dass sich etwas verändert hat?

Meine Großmutter bereitete meinen geliebten Griesbrei mit Salz statt Zucker zu. Sie vergaß Namen von ihren nahestehenden Personen. Sie lief mit Sommerkleidung im Winter herum, stand nachts vor meiner Tür und wollte hereingelassen werden – dass sie dafür bei mir an die Tür gehämmert hatte, hatte sie aber auch wiederum schnell vergessen.

Wie haben Sie sich gefühlt?

Ich fing an, mich das erste Mal in meinem Leben vor meiner Großmutter zu fürchten. Das war so ein grausames Gefühl: Diese Ohnmacht, teilweise auch Ekel, Angst, Scham – das sind alles Emotionen, die pflegende Angehörige oft durchmachen.

Dann haben Sie die Diagnose Demenz bekommen. Wie sind Sie damit umgegangen?

Wir haben versucht, jeden Tag zu meistern – oft mehr schlecht als recht. Meine Großmutter ist nach sieben Jahren aufopfernder Pflege meiner Mutter in unserer Häuslichkeit gestürzt und hat sich den Kopf angeschlagen. Sie lag eine halbe Stunde blutend auf dem Boden, als meine Mutter kurz nicht da war. Dann haben wir meine Großmutter in einer Nacht- und Nebel-Aktion, wie es leider so oft passiert, in ein Heim gegeben. Das war für uns der schlimmste Moment, weil wir dachten, wir haben versagt, wir sind schlechte Menschen.

Was würden Sie heute anders machen?

Wir dachten, wir müssten einfach so weitermachen, jeden Tag leben, wie wir es gewohnt waren. Und da lag der Fehler: Hilfe annehmen ist ein Zeichen von Stärke und nicht von Schwäche. Doch es ist dieses Schamgefühl, das heute leider noch in vielen Familien zu finden ist, das einen ausbremst, obwohl man sich sichtbar machen sollte. Richtig wäre es, sich Unterstützung zu suchen, sich weiterzubilden und sich mitzuteilen sowie der Familie, den Freunden und Nachbarn zu sagen, was vorgefallen ist und wie man unterstützen kann. Es gibt so vielfältige Hilfsangebote, die wir nutzen sollten. Außerdem ist es wichtig, sich selbst bei aller Fürsorge für andere nicht zu vergessen.

©Katrin Schöning

Was heißt ‚Selbstpflege‘ für Sie?

Meine Großmutter ist nach zwei Jahren im Heim mit 90 Jahren gestorben. Das war auch in Ordnung, sie durfte endlich gehen. Nicht in Ordnung war, dass meine Mutter ihr zwei Jahre und einen Tag später hinterherging, an den Folgen von Krebs. Ich bin
mir sicher, dass sie innerhalb der letzten Jahre der Pflege krank wurde. Das ist leider eine typische Geschichte. Menschen, die sich so aufopfernd verhalten, werden am Ende selbst krank. Das zeigt wieder, Hilfe annehmen ist so wichtig. Selbstpflege heißt, sich um sich selbst zu kümmern, bevor man sich um andere kümmern kann, denn nur wenn ich stark bin, kann ich auch für jemand anderes stark sein.

Ist Ihre Filmreihe »Ilses Weite Welt – Filme für Menschen mit Demenz« ein Teil der Selbstpflege?

Nach der Beerdigung meiner Mutter bin ich selbst an Hautkrebs erkrankt. Da wurde mir klar, dass ich etwas tun muss, dass ich anderen Menschen helfen muss, damit sie diesen Weg vermeiden, den wir gegangen sind. Seitdem stehe ich auf Bühnen und habe mit dem Projekt »Ilses Weite Welt – Filme für Menschen mit Demenz« angefangen.

Wie kamen Sie auf die Idee, Filme für Demenzkranke zu machen?

Unser heutiges Fernsehprogramm ist nicht geeignet für Menschen mit Demenz. Ich habe das im Heim meiner Großmutter beobachtet: Menschen mit Demenz wurden oft vor dem Fernseher geparkt. Ich sah, wie diese beiden Welten nicht zusammenpassten: Zum einen die sehr langsame, gefühlvolle Welt meiner Großmutter und zum anderen diese wahnsinnige, schnelle und auf den Verstand abzielende Welt des Fernsehens. Und dazu die hektische Werbung: innerhalb von 30 Sekunden 20 Schnitte mit 30 Protagonisten. Das überfordert mich ja schon! Da ich aus der Filmbranche komme, dachte ich mir: Ich möchte Bilder für Omi machen, damit ihre Leere mit Schönem gefüllt wird.

Ich habe in der Auseinandersetzung mit dem Thema Demenz so viel Tiefe und so viel Sinnhaftigkeit mit meinem Wirken erfahren, dass es mittlerweile meine Berufung ist.
Sophie Rosentreter

Was möchten Sie mit der Reihe »Ilses Weite Welt – Filme für Menschen mit Demenz« erreichen?

Ich möchte einen warmen Bilderteppich schaffen, der das Herz anspricht, nicht den Kopf. Es müssen lange Schnitte und emotionale Bilder sein. Ich will Hundewelpen, Kinder, Natur und Musik zeigen. Meine Großmutter hieß Ilse, daher der Titel „Ilses Weite Welt“. Denn die weite Welt ist ja noch in den Menschen mit Demenz vorhanden. Für mich als Außenstehende ist die Demenz wie ein riesengroßes Meer, in dem Menschen mit Demenz schwimmen. Das ist ein Meer aus Gefühlen – von Angst, Wut, über Lust, bis zur Freude – und zwischendrin tauchen Erinnerungen auf, die wir im Hier und Jetzt als real erleben. Wir als begleitende Angehörige und Freunde müssen Inseln in diesem Meer schaffen, Anker für Menschen mit Demenz werfen und da können die Filme unterstützen. Gemeinsam schaut man den Kindern im Tierpark zu und erinnert sich an vergangene Tage, teilt ein gemeinsames Lachen, einen schönen Moment.

Hat Ihre Großmutter die Filme noch gesehen?

Ich hatte das für meine Großmutter vor, doch leider verstarb sie vor der Fertigstellung. Ein Gerontologe aus unserem Familienkreis erschuf durch Zufall von meinem Projekt und sagte »Was für eine großartige Idee für Menschen mit Demenz – mach das weiter!«. Und so fing ich an, in diese Welt einzusteigen. Über anderthalb Jahre habe ich Filme gedreht und getestet. Und plötzlich merkte ich, was es alles Wunderschönes gibt, was trotz oder mit einer Demenz möglich ist.

 

Was Sophie Rosentreter bei Ihrer Recherche erlebte und wie sie Angehörigen von Demenzkranken Mut zu mehr Leichtigkeit und den eigenen Gefühlen vermitteln möchte, lesen Sie in Teil 2 unseres Interviews.

Sie wollen mehr über den berührenden Umgang mit Demenz erfahren? Entdecken Sie Sophie Rosentreters Buch „Alles anders – Wie leben mit Demenz“ und ihren eindrucksvollen Film zum Thema. Lassen Sie sich inspirieren! Weitere Infos und spannende Links finden Sie in ihrem Linktree.