Sophie Rosentreter ist ehemalige MTV-Moderatorin und Model. Als ihre Großmutter an Demenz erkrankte, begann sie sich mit Demenz und den Auswirkungen und Möglichkeiten für Angehörige auseinanderzusetzen. Heute tritt sie als Demenzaktivistin auf großen Bühnen auf. Sophie Rosentreter möchte aufklären, den Betroffenen die Scham nehmen und Mut zu mehr Leichtigkeit machen. Was sie über Demenz und den Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen in Pflegeeinrichtungen gelernt hat, erzählt Sie im zweiten Teil unseres Interviews.
Frau Rosentreter, für Ihre Filmreihe haben Sie verschiedene Pflegeexperten begleitet und in Pflegeeinrichtungen recherchiert. Was haben Sie da erlebt?
Ich habe von Ergotherapeuten gelernt und Pflegekräfte im Alltag begleitet, war in Betreuungsgruppen, Tagesstätten und in stationären Pflegeeinrichtungen. Ich habe Musiktherapeuten begleitet und erlebt, wie auf einmal durch ein Lied eine Frau wieder erwachte und mit wachen Augen mitsingt. Das war für mich Magie. Ich habe die Methode der Integrativen Validation (IVA) als Kommunikationsform bei demenziell erkrankten Personen gelernt, welche immer eine wertschätzende und emphatische Grundhaltung voraussetzt. Mit dem neuen Wissen ergaben sich so viele Möglichkeiten! Hätte ich das alles früher gewusst, hätte ich mit meiner Großmutter ganz anders kommuniziert und viel mehr schöne Momente geteilt.
Wie hat das ihren Blick auf Demenz verändert?
Der Blick auf die fachkundige Pflege hat mich abgeholt und in die Welt der Demenz eintauchen lassen. Schlagartig ergab alles mehr Sinn und wurde für mich klarer, was vorher eher düster erschien und mir Angst machte. In dem Pflegeheim meiner Großmutter hatte ich mich gefühlt wie im Zombieland. Die Härte des Alltags, des Alters und der Demenz hat mich so hart getroffen, dass ich wirklich Angst hatte. Das waren Menschen, die mich irritiert haben, und keiner hat sich Zeit genommen, um mich aufzuklären. Mittlerweile sind Pflegeheime meine Tankstellen. Heute gehe ich dorthin und atme auf, weil ich gelernt habe, dass Menschen mit Demenz Experten der Gefühle sind und die Begegnungen mit ihnen mir guttun!
Warum geben Ihnen Pflegestationen Kraft?
Begegnungen mit Menschen mit Demenz sind meine Tankstelle geworden, weil ich meine Einstellung geändert habe. Denn durch Wissen habe ich verstanden, dass die Welt der Demenz ein Anderland ist. So bezeichnet das Erich Schützendorf und ich finde es eine wunderschöne Herangehensweise.
Können Sie dieses Anderland beschreiben? Wie kann man sich das vorstellen?
Im Anderland herrschen nicht mehr vorrangig die Rationalität, der Verstand, die Planbarkeit oder die Zweckmäßigkeit. Diese Attribute gibt es in dem Land nicht mehr. Menschen mit Demenz leben immer mehr in diesem Anderland. Dieses Land besteht
aus Erinnerungen, Gefühlen, Sinnlichkeit, Zärtlichkeit, Kindlichkeit (ganz wichtig: nicht kindisch, sondern kindlich), des Verspielten, der Poesie, der Musik. Zeit spielt hier eine andere Rolle und läuft definitiv nicht mehr linear ab.
Wie können wir Menschen in diesem Anderland erreichen?
Wir als vermeintlich Gesunde müssen als Volkskundler in dieses Anderland reisen. Wir werden Menschen mit Demenz nicht mehr in unsere Welt bekommen. Mit unserem Verstand versuchen wir sie oft mit einer Angel einzuholen. »Jetzt denk doch mal nach« ist so ziemlich der unsinnigste Satz, den man zu einem Menschen mit Demenz sagen kann. Denn das Denken geht nicht mehr. Also müssen wir zu ihnen reisen, im Gepäck Wissen, Empathie und Mut, die Dinge anders zu machen, als gewohnt.
©Katrin Schöning
Wenn das Denken weg ist, was bleibt dann?
Nur, weil der Verstand weg ist, heißt das ja nicht, das die ganze Person weg ist. Sondern es tritt etwas anderes zum Vorschein: da ist umso mehr die Seele und das Gefühl. Je mehr das Logische verschwindet, umso mehr kommt das Gefühl zum Vorschein. Da liegt für mich eine totale Magie drin, weil ich glaube, dass unsere Gesellschaft mehr Gefühl wirklich guttun würde.
Wie können wir in Ihren Augen als Gesellschaft etwas von Demenzkranken lernen?
Wir sind eine Fortschrittsgesellschaft. Wir wollen immer höher, schneller, weiter. Es geht immer um das Ich, das Ego. Dann wird uns das auf einmal durch die Demenz genommen. Vielleicht ist es ein Spiegelbild, wo wir im Moment als Gesellschaft stehen. Ich denke, wir sollten lernen, etwas Gutes daraus zu ziehen. Für mich heißt das mehr Wir als Ich, Stehenbleiben, Achtsamkeit, Empathie, neu und feiner kommunizieren.
Können Sie ein Beispiel geben?
Ich gebe viele Schulungen für Pflegende in Pflegeeinrichtungen. Eine Mitarbeiterin in einem Pflegeheim erzählte mir die folgende Geschichte. Sie hatte sich im Pflegeheim mit einer anderen Pflegerin gestritten und ist daraufhin nach unten gegangen auf den Hof, weil sie kurz durchatmen wollte. Da kommt ihr eine demenziell veränderte Dame entgegen und die Pflegerin ringt sich ein Lächeln ab und begrüßt die Dame: »Frau Soundso, schön Sie zu sehen«. Und diese demenziell veränderte Dame beugt sich nach vorn, schaut ihr tief in die Augen und sagt »Oh, Sie lachen, aber wissen Sie was? Ihre Augen lachen nicht.«
Was lernen wir als z.B. pflegende Angehörige daraus?
Wir lernen daraus, dass wir nicht immer stark sein müssen, die Rollen einnehmen müssen, die uns die Gesellschaft vorschreibt. Menschen mit Demenz wissen ganz genau, ob wir uns verstellen oder nicht. Insofern kann man immer gut bei sich selbst schauen: wo stehe ich eigentlich gerade? Wir haben gelernt, stark zu sein und zu sagen, wo es langgeht, denn wer macht, hat Macht. Wenn es uns als pflegende Angehörige schlecht geht, dann dürfen wir das auch zeigen. Wir dürfen auch Stopp sagen, uns zurücknehmen, innehalten. Auch wir dürfen uns erlauben, Gefühle richtig zu zeigen. Und genau das können wir von Menschen mit Demenz lernen, ein wenig „echter“ durchs Leben zu gehen – ein wenig mehr Gefühl als Verstand zu zeigen!
Wie ist Ihr Umgang mit Menschen mit Demenz heute?
Ich bin immer ganz berührt, wenn ich in Pflegeheimen bin. Dann nehme ich mir extra noch zwei, drei Stunden Zeit, um mit Menschen mit Demenz zusammen zu sein. Innerhalb kürzester Zeit baut sich eine Verbindung mit wildfremden Menschen auf.
Oft geschieht dies nicht über das gesprochene Wort, sondern über nonverbale Kommunikation, einen Austausch über die Hände, über den Blick, ein Lächeln oder eine Umarmung. Das ist so echt, so ehrlich. Das sind Mikromomente der Verbundenheit, in denen man direkt ins Herz schaut, da tanke ich auf.
Was wünschen Sie sich von der Gesellschaft?
Der Umgang mit Demenz muss gelernt und geschult werden. Daher muss dieses Thema eigentlich schon in den Kindergarten, in die Schule rein. Es müssen überall Brücken gebaut werden. Denn wenn eine Demenz in einer Familie Platz nimmt, dann ist das ein Schicksalsschlag und man kommt ins Stolpern. In diesem Moment wäre es so schön, wenn man Wissen und Erfahrungen mit Demenz vorher schon als Normalität erlebt und als Teil des Lebens implementiert hätte. Dann ist es viel einfacher, damit umzugehen und man kann an dieser neuen Herausforderung sogar wachsen, mehr Tiefe erleben.
Wenn Sie mehr über Sophie Rosentreters Erfahrungen mit Demenz in der eigenen Familie erfahren möchten, empfehlen wir Ihnen Teil 1 unseres Interviews. Im dritten Teil sprechen wir mit Sophie Rosentreter über spannende Ausblicke und Modellprojekte.